Im September 1941 mussten innerhalb einer Frist von ein bis zwei Tagen weit über 1000 hannoversche Jüdinnen und Juden ihre Wohnungen verlassen und wurden auf engstem Raum in sogenannte „Judenhäuser“ zwangseingewiesen.
Ruth Gröne, Holocaustüberlebende, berichtete davon am 15.12.2022 in ihrer Rede zum 81. Jahrestag der Deportation nach Riga am Mahnmal Ohestraße:
„Wir kamen in die Ohestraße 9, hier war früher der jüdische Kindergarten gewesen. Im Vorderhaus Nr. 8 waren vorher die Zentralstelle für Wohlfahrtspflege der Synagogengemeinde Hannover und die Notstandsküche untergebracht.
Bis zum Riga-Transport wohnten nun in dem Gebäudekomplex ca. 200 der insgesamt 1.600 noch in Hannover lebenden Juden.
Ein kleines Zimmer von ca. 20 qm wurde uns zugeteilt, das wir uns mit fünf Personen und noch einem älteren Ehepaar teilen mussten. Für die beiden älteren Eheleute stellte mein Vater Ehebetten auf, meine Mutter und ich teilten uns eine Liege, auf den Brettern des nicht aufzustellenden Kleiderschranks lag eine Matratze, auf der schlief mein Vater. Weder Tisch noch Stühle hatten Platz.
Die wenigen Waschbecken und Toiletten reichten für so viele Menschen nicht aus. Zum Wäschewaschen gab es keine Möglichkeit, auch zum Kochen nicht.
Verpflegung kam aus einer Großküche im Haus. Der ekelhafte Geruch, der mittags durch´s Haus zog, löste bei mir oft Übelkeit aus. Wir Kinder hielten uns oft auf dem Hof auf und vergaßen beim Spielen für kurze Zeit das schreckliche Lagerleben.
In den großen Räumen haben sich verschiedene Familien ihren privaten Bereich mit Seilen und Bettlaken abgeteilt. Es gab strenge Vorschriften und Verbote. Zum Beispiel ab wann das Haus morgens verlassen werden durfte und abends wieder aufgesucht werden musste.
Die Ehe meiner Eltern bezeichneten die Nazis als „Mischehe“, da mein Vater jüdisch, aber meine Mutter christlich war. Meine Mutter wurde von der Gestapo mehrfach vorgeladen und sollte die Scheidung von meinem Vater unterzeichnen. Sie hat sich jedes Mal geweigert. Das hatte zur Folge, dass sie sich als Nichtjüdin am Tage, aber nicht des nachts im Lager aufhalten durfte. Jeden Abend, bevor die Aufsicht durch die Räume ging, drückte sich meine Mutter auf der Liege eng an die Wand, wir setzten uns mit den Federbetten davor und sangen Abendlieder.
Die Angst, entdeckt zu werden, war jedes Mal sehr groß und hätte eine Verhaftung nach sich gezogen. Meine Familie hat es riskiert, denn die Befürchtung, wir würden über Nacht evakuiert, ohne meine Mutter, war durchaus realistisch. Wir haben das sieben Wochen ausgehalten, dann bekamen wir am 5. Oktober im Judenhaus Herschelstraße 31 ein Zimmer für uns drei alleine. Mein Vater hat beim Transport der Eltern am 15. Dezember 1941 auf dem Fischerbahnhof mitgeholfen. Er konnte ihnen noch helfen, es waren die letzten Stunden, dann haben wir nie wieder von ihnen gehört.“
Die Verschleppung von 1001 Menschen in das Ghetto Riga am 15.12.1941 war die erste und größte von Hannover ausgehende Deportation. Bis 1945 folgten sieben weitere kleinere „Transporte“ aus Hannover über den Bahnhof Fischerhof nach Auschwitz und in die Ghettos im Osten.
Die Häuser Ohestraße 8 und 9 wurden allerdings schon im Juni 1942 geräumt. In der Ohestraße 9 wurden französische Kriegsgefangene untergebracht, das zugehörige Wachkommando zog in das Vorderhaus Ohestraße 8, wo auch das städtische Kriegssachschädenamt sowie von der Stadt eingewiesene Mieter*innen Platz fanden.
Quellen:
Buchholz, Marlis, Die hannoverschen Judenhäuser: Zur Situation der Juden in der Zeit der Ghettoisierung und Verfolgung 1941 – 1945, Hildesheim 1987
https://zukunft-heisst-erinnern.de/orte-der-verfolgung/juedisches-gemeindehaus-ohestrasse/